Jan Dominiczak ist Lehrer. Keiner von denen, die dem Klischee entsprechen, diesen Beruf wegen der vielen Ferien oder des Beamtenstatus ergriffen zu haben. Sondern einer, der sich für seine Schüler engagiert. Und dafür, dass sie richtig sehen können. Seine Erkenntnisse sind erstaunlich - auch wenn sie nicht jedem passen. Wenn Jan Dominiczak aus dem schwäbischen Maulbronn in den Heften seiner Schüler blättert, findet er nicht nur Rechtschreibfehler, sondern auch Sehfehler: Immer wieder stellt er fest, dass und wie eine nicht erkannte und vor allem nicht korrigierte Winkelfehlsichtigkeit die schulischen Leistungen seiner Schützlinge beeinträchtigt. Und daneben auch ihre Lebensqualität und ihre Zukunftschancen: "Ob ein Kind nach der 4. Klasse den Sprung ins Gymnasium oder in die Realschule schafft, ist nicht nur eine Frage des Wissens, sondern auch des guten Sehens", sagt er besorgt, denn sein Engagement ist nicht unumstritten. Augenärzte beargwöhnen sein Tun und seine Erkenntnisse sowieso, aber selbst manche Augenoptiker-Funktionäre stehen ihm skeptisch gegenüber. Vermutlich vor allem, weil es nicht sein darf, dass ein einfacher Grund- und Hauptschullehrer Dinge entdeckt und weiß, die sie selbst so gar nicht kennen.

Viele Lehrer, Eltern oder auch Ärzte benutzen bei Schreib- und Lesedefiziten lieber den Begriff "Legasthenie" als bequeme Erklärung, nicht selten mit dem Unterton "nicht doof, aber irgendwie doch". Etwa so, als müsse man sich eben nur ein bisschen mehr anstrengen, damit das Lesen und Schreiben besser klappt. Also geben Eltern eben Geld für Nachhilfestunden aus, obwohl ihnen wenig Hoffnung gemacht wird, da Legasthenie in Fachkreisen als nicht heilbar gilt und allenfalls gelindert werden könne. Dabei wäre oft der Besuch bei einem tüchtigen Augenoptiker oder Augenarzt der richtigere Schritt, um hier ein großes Stück weiterzukommen.

Die Problematik der Winkelfehlsichtigkeit kennt Jan Dominiczak aus eigenem Erleben: Er selbst trägt heute die Prismenbrille, die er vermutlich schon als Kind gebraucht hätte. Und vor zehn Jahren fiel ihm bei seiner Tochter auf, dass diese in der dritten Grundschulklasse deutliche Auffälligkeiten zeigte. Sie hatte zwar eine schöne Handschrift, aber gleichzeitig auch Schwierigkeiten mit der Dehnung und Schärfung bestimmter Worte, schrieb "n" statt "nn", "t" statt "d" oder Worte wie "hat" mit "tt". "Auch mit der Groß- und Kleinschreibung hatte sie Probleme, wollte nicht lesen, und Vorlesen war besonders schrecklich für sie", erinnert sich der engagierte Lehrer und Vater.

Durch Zufall erfuhren er und seine Frau von einem Augenoptiker, von dem es hieß, er messe Sehfehler "anders" und begnüge sich nicht damit, nur die Dioptrienwerte einer Fehlsichtigkeit festzustellen. In diesem Zusammenhang begegnete Jan Dominiczak erstmals der Fachbegriff "Winkelfehlsichtigkeit" und die bekannte "Mess- und Korrektionsmethodik nach H.-J. Haase" (MKH).

Zahlreiche Augenärzte und Wissenschaftler haben an dieser MKH, die heute viele Augenoptiker praktizieren, jedoch ihre Zweifel. Prof. Guntram Kommerell von der Augenklinik Freiburg, wo man sich unter anderem intensiv mit Schielbehandlungen und der Zusammenarbeit von Auge und Gehirn beschäftigt, hält diese Methode für "unwissenschaftlich"; ihre unbestreitbaren Erfolge begründet er lieber mit dem Placebo-Effekt. Nur einem Prozent der betroffenen Kinder könne durch eine Prismenbrille überhaupt geholfen werden. Ansonsten würden solche Brillen eher schaden, weil sich die Augen an die Brille gewöhnen. Eine ungewöhnliche Logik, mit der man eigentlich auch Schuhe verteufeln müsste, weil sich die Füße daran gewöhnen…

Doch ungeachtet der Skepsis der Wissenschaft gibt es einen Grundsatz, der über alles schulmedizinische Fachwissen erhaben ist: "Wer heilt, hat recht". Denn was wirklich zählt, ist nur das Ergebnis selbst - und nicht, ob dieses Ergebnis von der Wissenschaft bereits anerkannt oder überhaupt erwünscht ist. Auch wenn bestimmte wissenschaftliche Kapazitäten genau damit Probleme haben; vor allem dann, wenn solche Erkenntnisse nicht aus den eigenen Reihen stammen.

Die eingehende Untersuchung von Jan Dominiczaks Tochter vor zehn Jahren hatte jedenfalls eine Brille mit prismatischer Korrektion zur Folge - mit ganz erstaunlichen Auswirkungen: "In wenigen Wochen wurde sie zu einer solchen Leseratte, dass wir abends sogar die Sicherung herausdrehen mussten, damit sie mit dem Lesen aufhörte," staunt der Pädagoge noch heute.

Aber sein Forscherdrang war geweckt: Was bei der eigenen Tochter solche positiven Auswirkungen hatte, würde möglicherweise auch manchem Schüler helfen. Nicht zuletzt, weil Kinder sich in den letzten Jahren längst nicht mehr so viel bewegen wie früher, sondern große Teile ihrer Freizeit vor dem Fernseher oder dem Computer verbringen. Dabei geht es Jan Dominiczak nicht um die Frage, ob ein Computer oder Gameboy pädagogisch sinnvoller ist als das Versteckspielen im Freien, sondern darum, dass diese Tätigkeiten für ein Kind dauernden "Sehstress" bedeuten und die Regenerationsphasen für die Augen zu kurz kommen: "Einige Kinder kommen schon mit leeren 'Hirnbatterien', also ermüdet, in die Schule. Der Nachtschlaf reicht kaum aus, um genügend Energie aufzutanken, sondern nur noch für das Laden einer 'Notbatterie'."

Die unter Ärzten umstrittene MKH war für ihn jedenfalls der Schlüssel zum Verständnis des Problems. Denn damit war plötzlich plausibel, warum kluge und pfiffige Schüler, die mit komplizierten technischen Vorgängen problemlos umgingen, selbst einfache Wortbilder nicht richtig wiedergeben konnten. Und warum manche von ihnen in Klassenarbeiten eine Eins und andere eine Sechs schreiben - obwohl sie vom selben Lehrer unterrichtet wurden.

Die Erklärung dafür hat nichts mit Intelligenz zu tun, sondern mit dem Sehen: Beim Lesevorgang gleiten die Augen in so genannten Sakkaden über den Text, wobei jeweils nur wenige Buchstaben scharf gesehen werden. Werden die Buchstaben aber nicht scharf, eventuell sogar über- oder nebeneinander versetzt gesehen, entsteht Unsicherheit, die die Augen zurückschwenken lässt, um den Vorgang zu wiederholen. Und dann fällt es einem Kind schwer, Buchstaben zu sinnvollen Einheiten zu bündeln.

Aber nicht nur bei feinmotorischen Anforderungen wie beim Lesen und Schreiben, sondern auch im Schulsport konnte Jan Dominiczak immer wieder Auffälligkeiten beobachten: "Um nicht an Gegenständen hängen zu bleiben oder darüber zu stolpern, benötigt das menschliche Gehirn laufend Raumkoordinaten aus der Umgebung. Deshalb sind winkelfehlsichtige Kinder beim Laufen oft ungelenkig in ihren Bewegungen und stolpern leicht, weil ihre Koordinaten zum räumlichen Sehen einfach nicht stimmen."

Hier sah er Handlungs- und Erklärungsbedarf - und suchte immer wieder das Gespräch mit den Eltern dieser Kinder. Eines seiner besonders eindringlichen Beispiele für die Notwendigkeit der Behandlung ist die Schriftprobe eines Drittklässlers: Vor der Korrektur seiner Winkelfehlsichtigkeit war die Schrift des Jungen kaum lesbar. Er verwechselte "b" und "p", vergaß den Buchstaben "h" und verwendete so gut wie nie Doppelmitlaute wie "tt". Nach einer Augen-Operation gab der Junge ein selbst beschriebenes Blatt ab, das seine Lehrerin nicht annehmen wollte. Ihre Begründung: Der Schüler solle das Blatt nicht von seiner Mutter ausfüllen lassen.

Um seine Erkenntnisse und Beobachtungen auf solidere Füße zu stellen und vor allem, um sie über die Behauptung des Zufalls zu erheben, entwickelte Jan Dominiczak gemeinsam mit seiner Frau - ebenfalls Lehrerin - entsprechende Testbogen, teilweise mit standardisierten und damit vergleichbaren "Abschreibsätzen", teilweise auch als "Nachfahrbogen" für jüngere Schüler, bei denen die Handschrift aufgrund ihres Alters noch keine wirklichen Rückschlüsse auf das Sehen zulassen würde.

Nachfolgend sind zwei Testbogen als Beispiel vorgestellt:

Florian ist in der dritten Klasse und schreibt ohne Brille.

Mit einer prismatischen Brillenkorrektion ungefähr sechs wochen später ist Florians Schriftbild schon viel ausgeglichener.

Lars zeigte schon im Kindergarten Auffälligkeiten. Er trägt zwar eine Brille, kann aber nicht ausschneiden, ausmalen oder Papier falten. Sechs Wochen später mit einer geringen prismatischen Korrektion ist die Hand-Auge Koordination bereits erheblich verbessert. Gut zu erkennen beim Hausbild oder der Schlangenlinie.

Der "Vorher-Nachher"-Vergleich dieser Testbogen im Abstand von wenigen Monaten zeigt eindeutig: Je früher man eingreift und die Winkelfehlsichtigkeit behebt, desto problemloser verläuft die weitere Schulkarriere eines Kindes. Und da empfindet Jan Dominiczak die Verantwortung, sein Wissen an die Eltern betroffener Kinder weiterzugeben. Wie er überhaupt seine gesamte Tätigkeit nicht nur im Vermitteln von Lehrstoff oder Benoten von Klassenarbeiten sieht, sondern darin, die ihm anvertrauten Kinder möglichst optimal zu fördern, und zwar auf der ganzen Linie.

Deshalb nimmt er sich auch das Recht, diejenigen zu kritisieren, die sich nicht oder nur "mit halber Kraft" für die Belange von Kindern mit Sehstörungen einsetzen. Denn er sieht und kennt die weit reichenden Folgen nicht behandelter Winkelfehlsichtigkeit aus täglichem und eigenem Erleben genauso wie die unübersehbaren Fortschritte nach einer Korrektion. Aber Uneigennützigkeit wird in unserer Gesellschaft nicht immer geglaubt, nicht selten sogar argwöhnisch beäugt. Da werden ihm schon einmal unlautere Motive unterstellt, zum Beispiel, an einem Augenoptikerladen beteiligt zu sein. Oder zumindest Provisionen von Augenoptikern zu kassieren, wenn die von ihm betreuten Schüler dort eine Brille kaufen. Darüber lacht der engagierte Lehrer zwar; in Wirklichkeit verletzt es ihn aber sehr. Auch wenn er sich damit beruhigen könnte, dass die Verursacher solcher Gerüchte damit eigentlich nur etwas über sich selbst sagen und nicht über ihn.

Aufgeschlossene Eltern und Lehrer sind jedenfalls immer wieder überrascht, wie sehr sich vormals auffällige, unkonzentrierte und hyperaktive Kinder durch ihre Brille zum Positiven verändern, selbst wenn sie nur sehr kleine prismatische Werte haben. Manche Eltern berichten von einem neuen Schlafrhythmus, ausgeschlafenen und ausgeglicheneren Kindern. Auch daraus kann man den Schluss ziehen, dass es nicht so sehr darauf ankommt, ob das Defizit eines Kindes bei einer oder zehn Prismendioptrien liegt, sondern darauf, dass diese möglichst genau ermittelt und korrigiert werden. Und zwar nicht nur einmal, sondern in regelmäßigen Abständen.

Die weit verbreitete Annahme, dass eine solche Brille nur in der Schule oder bei den Hausaufgaben getragen werden müsse, ist übrigens falsch; nur eine konsequent den ganzen Tag getragene Prismenbrille kann dem Kind wirklich helfen, weil es sich nur dann nicht laufend auf verändertes räumliches Sehen einstellen muss. Dominiczak vergleicht das gern mit einem Schreiner, der einen Schrank bauen und abwechselnd mit der Einheit "Zoll" oder "Zentimeter" arbeiten soll: Auch das würde wegen der Notwendigkeit des dauernden Umrechnens die Anstrengung bedeutend erhöhen. Außerdem plädiert er dafür, dass die Krankenkassen sich an den Kosten der Prismenbrillen beteiligen. "Die leisten Ähnliches wie orthopädische Einlagen in Schuhen - und deren Nutzen zieht ja auch niemand in Zweifel."

Jan Dominiczak ist kein studierter augenoptischer oder augenärztlicher Fachmann; er will das auch gar nicht sein. Seine Erkenntnisse beruhen "nur" auf aufmerksamen Langzeitbeobachtungen seiner Schüler und seiner eigenen Kinder. Aber er will etwas verbessern. Vielleicht ist gerade das so beunruhigend und unbequem für die Ärzteschaft, die sich tagtäglich von Berufs wegen mit dem Sehen befasst: Dass ein Lehrer sich nicht darauf beschränkt, seinen Schülern Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen, sondern sich auch noch mit großem Engagement darum bemüht, dass sie besser sehen - und in der Folge besser lernen.

Wenn seine Erkenntnisse auf breiter Front verstanden und umgesetzt würden, würde eine PISA-Studie in ein paar Jahren möglicherweise ganz anders aussehen…